Phone: 0170 5980 331
Harnackstrasse 32
44139 Dortmund - Kreuzviertel
Freitag 17.30 - 19.30 Uhr
Samstag 10.30 - 14.00 Uhr

1914

Der Horizont glüht in der Abenddämmerung. Es ist nicht die Sonne, die untergeht. Es sind die Geschütze der Franzosen, von denen man gestern noch behauptet hat, sie seien auf dem Rückzug, sie könnten unserem Druck nicht standhalten. Was man uns alles so erzählt. Und was man denen in der Heimat erzählt. Durchhalten, irgendwie. Hier wie dort. Erdbrocken rieseln herab in den Schützengraben, wenn der Boden unter dem Kanonendonner erzittert. Man hockt im Matsch und auf morschem Holz, vielleicht auf Knochen, wer weiß das schon. Man gewöhnt sich daran. Man schläft in den langen schweren Mänteln einen kurzen und traumlosen Schlaf. Auch daran gewöhnt man sich. Man klammert sich irgendwo fest. An seinem Gewehr, an seiner Zigarette. Oder legt den Kopf auf die Knie und macht sich ganz klein. Mit der Zeit erkennt man die Art, die Entfernung und die Richtung der Geschütze am Klang. Man wird ruhiger und zuckt längst nicht mehr bei jedem Geräusch zusammen. Man wittert die Gefahr. Man erkennt die Entspannung. Ab und zu hört man ein Pferd wiehern und denkt an zu Hause. Man genießt den Anblick des rot gefärbten Horizonts und denkt an zu Hause. Man denkt an das Dorf, durch das man gestern marschiert ist, an die Konditorei, an das Kaffeehaus, in dem man in Frieden sitzen möchte. Man denkt an die Liebste, an die Herbstsonne, an saftiges Obst, an ein Bad, ein reines Bett. Man denkt einfach, man denkt sich alles schön. Nur der Leichengeruch holt einen zurück und hält einen im Feld. Dieser Geruch ist schlimmer und stärker als der Anblick der Toten.

Heute haben wir zum Glück keinen unserer Kameraden verloren. Gestern noch haben wir August betrauert. Dieser verrückte Kerl wird uns fehlen mit seinen schlechten Scherzen, seinem unerschöpflichen Fundus an Schnaps aus seiner Heimat, seiner ewigen Glücksträhne beim Karten spielen. Nun ist auch das vorbei. Das letzte Paket von ihm haben wir unter uns aufgeteilt und einen Kräuter auf sein Wohl getrunken. Es war ganz still, trotz der schweren Geschütze, die wir am dumpfen Rollen erkennen. Ich fühle mich gleichmäßig wohl, gleichmäßig traurig. Ich verwinde Augusts Tod nicht. Wie viel ist uns allen verloren; es ist wie ein Mord.

Die Zeit des Weltkriegs ist nicht viel böser als irgendeine Zeit des tiefsten Friedens; der schönste Friede war immer nur latenter Krieg. Der Krieg jetzt ist doch nichts anderes als die bösen Zeiten vor dem Kriege; was man vorher in der Gesinnung beging, begeht man jetzt mit Taten; aber warum? Weil man die Verlogenheit der europäischen Sitte nicht mehr aushielt. Lieber Blut als ewig schwindeln.

Niemand wird aus diesem Krieg hervorgehen als der, der er vorher war. Ein bisschen stiller und melancholischer wirst du mich finden, - du wirst es auch sein; die Klugen und Denkenden werden nicht dieselben sein wie früher. Eine solche Zeit durchleben die Menschen nicht alle 100 Jahre, viel seltener sogar. Der Kampf ist nicht heroisch oder gar romantisch, wie Delacroix, Uccello und all die anderen ihn dargestellt haben. Auch wenn es Momente der Stille und Freude gibt. Heute wurde ich furchtbar sehnsüchtig; es regnete und tropfte von allen Zweigen mit einem Klang, den es nur im Frühling gibt. An Weihnachten habe ich in einem französischen Dorf für die Kinder den heiligen Niklas gespielt. Es war seltsam und schön zugleich. Und Tage später verkrochen sich wieder alle in ihren Häusern und Stellungen, rückten Meter für Meter vor oder wichen zurück, versteckten sich in den Wäldern. Tage später war das Dorf nur noch Schutt und Asche und die Schönheit verging mit dem Rauch.

Wann kann ich endlich wieder Malen? Die französischen Dörfer mit ihren Häusern aus graugelbem Sandstein machen mich wehmütig. Wenn ich mich in solche Szenen vertiefe, ertappe ich mich dabei, dass ich statt dem Kalt und Warm und der Luftperspektive, Zahlen sehe, rein abstrakte Klänge und schnell ist der impressionistische, anheimelnde Traum vorbei und die Arbeit beginnt. Aber so lange ich Soldat bin, werde ich nicht malen können. Wir müssen erst das hier zu Ende bringen. Das Sterben und den Neubeginn. Wenn aus diesem Krieg kein Dichter und keine Musik hervorgeht, dann gibt es überhaupt keine mehr. Es gilt, die Eitelkeit zu besiegen, damit reine Werke entstehen können. Im Feld lernst du, dein Ich zu vergessen und dich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich werfe jeden Tag mehr auf den Scheiterhaufen des Unwesentlichen.

Auf die Glut des Horizonts zeichne ich mit weißer Kreide die Silhouette deines Körpers. Ich blicke in den Sternenhimmel und verbinde die Himmelskörper miteinander, die zu deinem Körper werden. Dein Körper ist nachtschwarz. Ich kann mich nicht sattsehen an dir, ich korrigiere die ein oder andere Linie, vervollkommne deine Aura. Ich bezeichne deine empfindlichsten Stellen, die ich sonst mit meinen Händen begreife. Aber meine Hände sind verdreckt vom Schlamm der Schützengräben, sie riechen nach dem Metall des Gewehrs und nach schlechtem Tabak, sind rau und rissig und wenig liebenswert. Schaust du deswegen so, weil ich dich nicht berühren mag mit diesen Händen, nimmst du deswegen diese strenge Haltung ein? War ich bei meinem letzten Heimaturlaub zu still, zu wenig aufmerksam? Wenn meine Briefe matt und trüb sind - an meinem Herzen liegt es nicht, auch nicht an meiner Liebe, das glaub nie. Der Krieg macht stumm. Dein süßer Duft weht zu mir herüber. Du schwebst über dem Schützengraben, ich versinke im Morast meiner Sehnsucht. Über uns dröhnen Flugzeuge, heulen Granaten. Trotzdem kann ich das Rauschen meines Bluts hören. Der Tod streckt seine Arme aus. Bleich und ernst und wissend. Ich weiß nicht, ob ich jemanden getötet habe, der einzelne Feind ist unsichtbar. Aber das ist unwesentlich. Die Schuld steckt nicht in meinen Taten. Die Schuld steckt in meinen Gedanken, die dieses Chaos, dieses Entsetzen hervorgebracht haben. Die Schuld steckt in meiner Untätigkeit, die diesen Aufmarsch der Soldaten erst ermöglicht hat. Deswegen hocke ich hier im Graben und kralle meine Hände in deinen Kreidekörper, bis der Nachthimmel dich mir nimmt.

Iris harlammert